Samstag, 22. August 2009

Hier ist sie: Maevas Rede!

Ich danke euch für das rege Interesse. Es sind zwar erst neun Anfragen eingetrudelt, aber Andreas besitzt in der Tat Gewicht für zwei. Die Rede wird im Opernhaus von Sydney anlässlich der Amtseinführung Maevas als Generalsekretärin der URP (United Regions of the Pacific) gehalten. Aber denkt bitte daran, dass dies eine Rohfassung ist. Für Kritik und Vorschläge bin ich sehr dankbar. Also bitte, hier ist Maeva...

    Die meisten Gäste waren aus der Pause zurückgekehrt und hatten bereits wieder Platz genommen. Steve fragte sich, wieso das Rednerpult in die Kulissen geschoben und die Teleprompter abgebaut wurden - ausgerechnet vor Maevas Auftritt. Stattdessen, streute man Blumen, legte eine Bastmatte in der Mitte der Bühne aus und bestückte sie mit einer Reihe bunter Kissen.

    Wo blieb Cording? Er hatte seinen privilegierten Platz im Parkett (zweite Reihe, Mitte) mit Meredith Rose von National Geographic getauscht, einer Reporterkollegin, die er aus früheren Tagen kannte. Merkwürdig genug. Vielleicht zog er die Position auf dem Pressebalkon ja deshalb vor, weil er sich von hier aus jederzeit unbemerkt verdrücken konnte. Steve wusste, wie angespannt Cording war, welche Sorgen er sich um Maeva machte und wie grauenhaft es für ihn wäre, Zeuge ihres Scheiterns zu werden. Noch gestern hatte er allen Ernstes erwägt, Omai zu bitten, Maeva für krank zu erklären und sie damit aus der Schusslinie zu nehmen. Ihre Rede sollte Omai verlesen. Wer, so Cording, wäre dazu besser geeignet, als ihr Bruder, der ehemalige Präsident der Ökologischen Föderation Polynesiens?

    Das hätte Omai so gepasst, dachte Steve, während die Saaldiener damit begannen, die Türen zu schließen. Cording war nicht gekommen. Eine ganz schwache Nummer .... Das Licht in der Concert Hall erstarb und aus den unsichtbaren Reihen war nur noch vereinzelt ein Hüsteln oder Räuspern zu hören. Langsam, als würde die tropische Dämmerung heraufziehen, schälte sich die Bühne aus dem Dunkel. Inmitten von Blumen und Kissen kniete eine grazile Gestalt in entspannter Haltung auf der Matte, als hätte sie es sich auf einem schwebenden Diwan bequem gemacht. Sobald das Publikum registrierte, wen es vor sich hatte, begann es vor Begeisterung zu toben, erst recht, als Maeva kurz darauf überlebensgroß auf den beiden Screens links und rechts der Bühne zu besichtigen war.

    Steve hatte sich wie jeder hier im Saal erhoben und konnte sich nicht satt sehen an der Schönheit dieser Frau, die mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf die nicht enden wollenden Huldigungen reagierte. Ihre Augen streiften ohne Hast durch den Musiktempel, als wollte sie ihn bis in den letzten Winkel erkunden. Dabei fuhren ihre Blicke wie behutsam gesetzte Pinselstriche über die Reihen, in denen sich die Menschen nun als Bestandteil eines einzigen, großartigen Gemäldes fühlen durften. Steve mochte nicht glauben, was hier geschah, das grenzte an Zauberei. Maeva verharrte in ihrer unerschütterlichen Haltung. Sie trug einen üppigen Kranz weißer Tiareblüten um den Hals, der ihr bis zum Bauchnabel reichte. Ihre schwarze, lockige Mähne floss die nackten Schultern hinab und rahmte den Blumenschmuck auf voller Länge ein, sodass sie sich über dem in der Taille geknoteten rotgelben Pareu nicht die geringste Blöße gab, obwohl er wetten konnte, dass die meisten im Publikum das anders sahen.

    Nach einigen Minuten führte Maeva die rechte Faust ans Herz, schlug die Augen nieder und neigte den Kopf kaum merklich nach vorne. Innerhalb von Sekunden wichen die Begeisterungsschreie, wichen Fußgetrampel und Klatscherei einer fast andächtigen Stille.

    "Iaorana!" begrüßte Maeva die Anwesenden sichtlich beeindruckt auf tahitianisch. "Ich bin froh, dass Sie da sind, ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen. Mit Ihnen und allen anderen Menschen ..."

    Dem erneut aufkommenden Sturm der Begeisterung gebot sie mit einer beschwichtigenden Handbewegung Einhalt.

    "Bevor ich ihnen erzähle, wie ich mir eine solche Zusammenarbeit vorstelle, möchte ich mich bei den zwölf Regionen Australiens bedanken. Ohne ihre Bereitschaft, den Hilflosen und Verfolgten dieser Welt eine neue Heimat zu geben, hätte ich für dieses Amt nicht kandidiert. Ohne das Versprechen, der großen Schar von Umwelts- und Armutsflüchtlingen zu helfen, die ohne eigenes Verschulden überall auf der Erde ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden, würde vieles so bleiben, wie es ist - jedenfalls in unseren Herzen. Es sind aber in erster Linie unsere Herzen, die in Ordnung gebracht werden müssen. Die Gestaltung einer besseren Welt hängt nicht davon ab, wie viel umweltschonende Technik wir einsetzen und wie nachhaltig wir wirtschaften - eine bessere Welt ist nur möglich, wenn wir zu einer grundsätzlich anderen Lebens- und Weltanschauung finden."



    "Tut mir leid, Sir, ich kann Sie nicht mehr reinlassen."

    Cording zeigte dem Saaldiener seine Pressekarte.

    "Nichts zu machen, Sir. Ich befolge nur meine Anweisungen."

    "Hören Sie," sagte Cording, "ich bin Mitglied der tahitianischen Delegation."

    "So sehen Sie auch aus. Bitte bleiben Sie von der Tür."

    "Wieso? Heute Nachmittag konnte ich noch beliebig häufig rein und raus wandern ..."

    "Während der Rede der Präsidentin darf niemand in den Saal. Raus ja, rein nein."

    "Wer hat sich denn diesen Schwachsinn ausgedacht?"

    "Dieser Schwachsinn, Sir, geschieht auf ausdrücklichen Wunsch der tahtianischen Delegation."

    Oh ...



    Steve fühlte sich hin und her gerissen. Einerseits wollte er keine Millisekunde von Maevas faszinierendem Vortrag verpassen, andererseits schmerzte es ihn, dass ausgerechnet Cording glaubte, sich diesen historischen Moment ersparen zu können. Es musste etwas vorgefallen sein, anders war sein Verhalten nicht zu erklären. Eigentlich wäre es seine verdammte Freundespflicht gewesen, nach Cording zu suchen und ihn notfalls mit Gewalt her zu schleppen, dahin, wo die Musik spielte. Aber jedes Mal, wenn Steve kurz davor war, seinen Platz zu verlassen, hielten ihn Maevas Worte zurück, schien sie ihm etwas Wichtiges mitteilen zu wollen.

    "Die Krise, in der wir uns befinden, ist eine Krise der Herzen," sagte sie mit dieser melodiösen, wie durch Honig gezogenen weinroten Stimme. "Sie hat die menschliche Kultur infiziert wie eine Krankheit und dazu geführt, dass wir unsere tiefsten Werte in Frage gestellt haben. Wir wissen einfach nicht mehr, woran wir uns orientieren sollen. Es ist ein moralischer Kollaps, den wir erleben. Die Beziehungen zwischen uns Menschen und den Pflanzen, Tieren und Wesenheiten unserer Mitwelt sind zerbrochen. Warum? Weil wir die Unverschämtheit und den Dünkel besaßen, uns selbst in den Mittelpunkt der Schöpfung zu stellen. Wir haben uns abgenabelt vom Leben, wir schätzen und schützen es nicht länger, wir beuten es aus."

    Sie sagte ausdrücklich WIR, sie nahm niemand aus, obwohl sie indigenen Ursprungs war. Eine große, versöhnliche Geste, wie Steve fand.

    "Von allen Gefahren, die uns heute drohen ist keine so groß, wie die Gefahr der Verdrängung. Wenn wir die Augen vor dem verschließen, was um uns und durch uns passiert, dann geschieht das, was uns zu vernichten droht, weiterhin unkontrolliert. Der Einzelne fühlt sich angesichts der Wahrheiten, die es mittlerweile zu konfrontieren gilt, so klein und zerbrechlich, dass er glaubt, es würde ihn in Stücke reißen, sobald er sich erlaubt, seine Gefühle über den Zustand der Welt zuzulassen. Er befürchtet eine tiefe Depression oder Lähmung. Das Gegenteil aber ist der Fall. Wenn wir den Schmerz, den wir für die Welt fühlen, unterdrücken, dann isoliert uns das. Wenn wir ihn jedoch akzeptieren, anerkennen und darüber sprechen, dann merken wir, dass er weit hinaus geht über unser kleines Ego, dann erfahren wir durch ihn eine größere Identität, dann wird er zum lebendigen Beweis unserer Verbundenheit mit allem Lebendigen. Unser Schmerz um den Zustand der Welt und unsere Liebe für die Welt sind untrennbar miteinander verbunden, sie sind zwei Seiten derselben Medaille."



    Cording hatte keine Lust, Maevas Rede auf den installierten Monitoren im Foyer zu verfolgen, er hatte keine Lust, sich unter diejenigen zu mischen, die wie er um einige Minuten verspätet waren und die ihren Frust über die Aussperrung mit einem Glas Wein oder Sekt zu mildern versuchten. Wie ein Panther schlich er auf dem roten Teppich um den Konzertsaal, immer an den Garderoben entlang, immer in der Hoffnung, irgendwo eine unbewachte Tür zu finden, durch die er schlüpfen konnte. Keine Chance. Die Saaldiener standen wie angewurzelt vor den Eingängen, sie gaben ihm schon von weitem zu verstehen, dass jeder Versuch, sie zu überlisten, zwecklos war.

    Enttäuscht blieb er stehen. Hinter dem Tresen, an dem er lehnte, saß eine ältere Frau inmitten von Mänteln, Jacken und Regenschirmen und starrte auf einen kleinen Fernseher, den sie auf einem Stuhl in der Ecke postiert hatte. Cording fragte, ob er sich zu ihr setzen dürfe und wurde höflich dazu eingeladen. Was er kurz darauf auf dem kleinen Apparat zu sehen bekam, verschlug ihm die Sprache. Maeva stand nicht etwa am Pult, wie die Redner vor ihr, sie kniete in einem Blumenmeer am Boden, anmutig und aufrecht. Wo waren die obligaten Teleprompter, die als Gedächtnisstützen unerlässlich waren bei so einem Auftritt? Vielleicht hatte man sie unter der Decke angebracht, aber dazu hätte sie auch einmal hoch schauen müssen. Konnte es wirklich sein, dass sie auf dieses Hilfsmittel verzichtete und ganz und gar frei sprach?

    Vermutlich war es so. Sie wirkte dermaßen souverän, dass ihre schöne Gestalt und die ganze Farbenpracht völlig nebensächlich geworden waren. Ihr Äußeres schien lediglich wiederzuspiegeln, was an Feuer in ihr loderte. Es war unmöglich geworden, sich ausschließlich an den schönen Schein zu halten, ohne von ihr auf feinstofflicher Ebene vereinnahmt zu werden. Cording befürchtete, dass sie sich gleich ganz auflösen würde, als sei Materie im Reich ihrer neuen Wirklichkeit nur eine lächerliche Illusion. Er hatte von dem Phänomen des inspirierten Schreibens gehört, das Menschen, die normalerweise keinen vernünftigen Satz zustande brachten, kurzfristig zu wundersamer Poesie befähigte. Etwas ähnliches musste Maeva passiert sein. Natürlich wusste sie sich intelligent auszudrücken, sie war schließlich Universitätslehrerin gewesen. Aber was hier geschah, ging weit über das hinaus, was er von ihr bisher zu hören bekommen hatte. Sie war eine Predigerin geworden, eine beseelte Kriegerin, deren Autorität hier niemand leugnete. Sie hat sich über uns erhoben, dachte Cording. Nicht aus Dünkel, aus Berufung. Ein schweres Los. Und plötzlich fühlte er sich schwer, als trage er an einer bösen Vorahnung, die es einen Scheißdreck zu kümmern schien, dass er gerade einer Sternstunde beiwohnte.

    Die Faszination von Maevas Vortrag wurde auch nicht durch die praktischen Passagen getrübt, die sie gelegentlich einstreute. Gerade war sie dabei, die Grundpfeiler der neuen Verfassung zu erläutern, die sich die URP geben wollte. Eine komplexe Materie, die man nicht so eben aus der Hand schüttelte. Cording erinnerte sich gut an die Schwierigkeiten, denen sich der internationale Expertenrat gegenüber sah, der auf Betreiben Tahitits wochenlang an der Universität von Faaa beraten hatte. Viele Teilnehmer befürchteten, dass die radikalen Forderungen zum Schutze des planetarischen Ökosystems von den Supermächten USA, China und Russland als Provokation aufgefasst werden könnten, die den Krieg um die verbliebenen Ressourcen eher beförderten als verhinderten.

    "Wir interpretieren den Begriff Umweltschutz, der bisher eigentlich nur Menschenschutz bedeutete, grundsätzlich anders," sagte Maeva. "Bisher sprachen wir ausschließlich von Beständen, wenn von der Natur die Rede war. Wir machten in allem unsere Rechnung auf. Dieses Denken war nicht dem Leben verpflichtet, sondern einer Haushaltsphilosophie. Damit ist jetzt Schluss. Die URP wird eine Umweltbehörde ins Leben rufen, deren Aufgabe es ist, den Zustand unseres Planeten zu überwachen. Einen ökologischen Raubbau auf den Territorien der URP-Mitglieder darf es nicht länger geben. Wir sind angetreten, um für ein neues Bewusstsein zu werben. Wir sind nicht dazu da, einem todkranken Patienten durch den Ausverkauf unserer Ressourcen das Leben zu verlängern. Ich bin gerne bereit, in der Umweltpolitik, so wie wir sie verstehen, mit den Vereinten Nationen zusammen zu arbeiten. Denn unser Ziel muss es sein, dass sich wieder alle Menschen der Schöpfung verbunden fühlen. Nur so ist ein dauerhafter, kreativer Frieden auf Erden möglich."

    Die Garderobenfrau wischte sich verstohlen die Augen. Auch Cording zeigte sich von der sanften Art, in der Maeva Klartext redete, zutiefst beeindruckt.



    Steve hatte den Gedanken, nach Cording zu suchen, längst verworfen. "Die Erde ist ein lebendiges System, in dem alle Dinge miteinander verwoben und voneinander abhängig sind," sagte Maeva. Dabei beschrieb sie mit den Händen einen Bogen, als würde sie die Aura eines Neugeborenen streicheln. "Wer wollte ernsthaft daran zweifeln ..." fuhr sie leise fort, "wir alle leben von der Erde, sie ist unser Lebensspender. Glaubt jemand im Ernst, dass etwas, das Leben spendet, selbst ohne Leben ist?" fragte sie und blickte quälend lange ins Publikum. "Wenn wir bereit sind, uns als Bestandteil dieses lebendigen Erdkörpers zu verstehen, wird sich unsere Stellung in der Welt grundsätzlich verändern. Eine solche Perspektive hat dramatische Folgen für unser inneres und kollektives Wachstum. Sie mag angesichts der herrschenden Probleme visionär und verträumt wirken, kommt in unseren modernen Kulturen aber längst zum Ausdruck. Zum ersten Mal in unserer Geschichte sind wir mit der selbstverursachten Zerstörung der biologischen Lebensgrundlagen konfrontiert. Keine Generation vor uns hatte eine solche Bedrohung auszuhalten. Die eigentliche Frage, die wir uns also zu stellen haben, lautet: kollektiver Selbstmord oder geistige Erneuerung? In dieser Frage liegt eine ungeheure Chance. Denn zu keiner Zeit war das Wissen um die globalen Konsequenzen eines reduzierten, isolierten und abgetrennten menschlichen Selbstbildes so groß und der Bedarf an neuen verbindenden Sichtweisen so hoch wie heute. Die Menschen hungern förmlich nach einer positiven Perspektive. Wer, wenn nicht wir, die wir uns bereits besonnen haben, könnte ihnen eine solche Perspektive bieten?"



    Der Beifall, der Maevas letzten Worten folgte, fegte wie ein Sturm durch die Garderobenflure. Cording witterte seine Chance. Er schwang sich über den Tresen und steuerte zielbewusst auf die nächstgelegene Tür zu, vor der sich ihm aber prompt einer dieser uniformierten Wächter in den Weg stellte.

    "Das ist doch albern," schimpfte Cording genervt, "es merkt doch keine Sau, wenn Sie mich jetzt reinlassen!"

    "Tut mir leid, Sir, wir haben nun mal unsere Anweisungen."

    Oh Gott ... Einen Augenblick lang war er versucht, den doch recht schmächtigen Mann einfach beiseite zu schupsen, die Tür aufzureißen und in der tobenden Menge unterzutauchen. Dann besann er sich und trottete zurück an seinen Platz, dort wo die Mäntel hingen, wo eine alte Frau ihm den Hocker zurecht rückte, ohne dabei den Blick vom Fernseher zu nehmen.

    "Wir müssen uns wieder fragen: Was wollen wir? Wer sind wir? Was brauchen wir?" hörte Cording seine Liebste sagen, die aus einer anderen Sphäre zu ihm zu sprechen schien. "Indem wir uns dies fragen, schulen wir nicht nur unsere Wahrnehmung, wir formulieren auch unsere Bedürfnisse neu. Es gibt inzwischen viele Menschen auf der Welt, die diesen Bewusstseinswandel vollzogen haben und täglich werden es mehr. All das passiert in einem ungeheuren Tempo und es passiert jetzt. Die Vertreter des alten Systems wissen das. Sie wissen, dass ihre Richtlinien, Normen und Werte nicht mehr funktionieren. Ein solcher Wertezusammenbruch macht uns Angst. Wir haben Angst vor Chaos und Anarchie, Angst davor, in diesem Endzeitszenario, in dem sich jeder gegen jeden zu behaupten versucht, unterzugehen. Aber nicht wir sind dem Tode geweiht, es sind unsere alten Sicht- und Handlungsweisen die sterben. Im Grunde müssen wir heute zwei Aufgaben zugleich bewältigen: als Sterbebegleiter für ein abgewirtschaftetes System und als Geburtshelfer für eine neue Kultur. Wenn es uns gelingt, eine positive Zukunftsvision in uns erblühen zu lassen, dann werden wir sie in der praktischen Politik auch umsetzen können. Denn es wird nichts Neues durch uns in die Welt kommen, was in unserem Bewusstsein nicht vorher Gestalt angenommen hat."



    Als Maeva mal wieder geduldig auf das Ende des Applauses wartete, beugte sich Omai zu seiner Sitznachbarin.

    "Dieser Platz war eigentlich einem unserer Delegationsmitglieder vorbehalten," sagte er höflich.

    "Ich weiß," antwortete Meredith Rose und stellte sich kurz vor. "Wir haben die Karten getauscht."

    "Sie wissen nicht zufällig, wo sich unser Freund befindet?"

    "Auf der Pressetribüne."

    Omai nickte und wandte sich wieder seiner Schwester zu, die das Gespräch sehr wohl registriert hatte.

    "Wenn die Zerstörungen unserer Lebensgrundlagen so radikal und schnell vonstatten gehen, wie wir es gerade erleben, dann muss der Versuch, sie einzudämmen, ebenso radikal und schnell sein, sonst greift er nicht. Aber eines ist auch klar: unsere Gegenwehr muss friedlich verlaufen. Die Methoden, derer wir uns bedienen, dürfen niemals eine gewaltsame Auseinandersetzung nach sich ziehen, kein einzelner Mensch, egal was er tut und wo er lebt, darf durch uns jemals zu Schaden kommen." Sie lächelte und deutete auf Omai. "An dieser Stelle darf ich einen Satz aus der Rede meines Bruders zitieren, die dieser vor fünf Jahren vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen gehalten hat: Es geht nicht darum, wer recht hat, wer gewinnt oder verliert. Es geht darum, dass entzweite Parteien wieder zueinander finden und Frieden schließen. Es geht um das Vergnügen, Frieden zu schließen! Genau, darum geht es. Es muss doch Spaß bringen, unseren verschmutzten Wohnraum Erde wieder aufzuräumen. Je mehr Menschen das verstehen, desto größer ist die Chance, die scheinbar unverrückbaren Strukturen eines alten Machtgefüges von innen heraus zu unterminieren und zu Fall zu bringen. In ihrem Buch "Die Ökonomie des Terrors" spricht die italienische Wirtschaftswissenschaftlerin Loretta Napoleonie von Zuhältern der Globalisierung. Gemeint ist die kleine Kaste der machtvollen Manager und Politiker, die mit ihren begrenzten Interessen und Visionen gar nicht in der Lage sind, eine nachhaltige Zukunft zu garantieren. Nun, ich habe meine Schwierigkeiten mit dem Begriff global. Ich glaube nicht, dass es irgendetwas gibt, was ausschließlich global wäre. Die globale Umweltverschmutzung entsteht im Lokalen. Alles Globale hat lokale Wurzeln. Selbst die eben genannten Manager und Politiker sind nur ein elitärer machtvoller Männerverein europäischer Herkunft. Es handelt sich um eine kleine lokale Gruppe, die im weltweiten Maßstab agiert und sich verhält, als sei sie der globale Stamm, der jeden anderen Stamm als lokal abwerten darf. Das Ergebnis dieser Anmaßung können wir heute überall besichtigen. Die Menschen wollen es aber nicht mehr hinnehmen, dass jede produktive Handlung auf diesem Planeten in ein globales Wirtschaftssystem gepresst wird, um einen Wert zu bekommen. Sie sehnen sich nach Identität. Ihre Identität finden sie nur, wenn sie ihre Probleme vor Ort angehen. Der einzige Weg, das globale Desaster in den Griff zu kriegen, sind weltweite lokale Lösungen, davon bin ich überzeugt."



    Cording wunderte sich, wie geschickt es Maeva immer wieder verstand, jedenfalls einige der gemeinsam ausgearbeiteten Passagen in ihren Text zu binden. Vieles von dem, was ihm und Omai so wichtig erschienen war, ließ sie einfach unter den Tisch fallen. Wo waren die konkreten Schuldzuweisungen an die Mächtigen dieser Welt, wo die Hinweise auf die Global-Oil-Affäre? Sie hatte Tahitis Vorreiterrolle bisher mit keinem Wort erwähnt und von einer Magna Charta der Ökologie, die es zu erstellen galt, war ebenso wenig die Rede wie von dem weltföderalistischen Friedenskonzept, auf das sich Omai und er so viel zugute hielten. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ethik, ein Kernpunkt des ursprünglichen Entwurfs - Maeva verzichtete darauf. Der ganze Aufbau, die spirituellen Aspekte, auf die sie Wert legte, waren so nicht verabredet. Er war nicht einmal sicher, ob sie ihren Bruder davon in Kenntnis gesetzt hatte. Vermutlich nicht, das hätte Omai ihm gesagt.

    Cording betrachtete die Garderobenfrau, die allmählich in den Fernseher hinein zu kriechen schien, so gebannt verfolgte sie die Übertragung. Auch er hatte sich ja längst davon überzeugt, dass das, was Maeva hier aus freien Stücken aufführte, eine ungleich größere Überzeugungskraft entfaltete, als es der mit Fakten und Appellen gespickte Entwurf, den sie ihr an die Hand gegeben hatten, je hätte tun können. Erstaunlich, dachte er, dass sie trotz aller offenen Aussagen nie anklagend wirkte, dass das folkloristische Ambiente, in dem sie sich am Rande des Kitsches bewegte, ihrer Autorität in keiner Weise schadete. Die weihevolle Stimmung, die sie im Konzertsaal herzustellen verstand, kroch ja förmlich durch die Ritzen der verschlossenen Türen ...



    Steve blickte auf die Uhr. Anderthalb Stunden hatte Maeva bereits geredet, aber es kam ihm vor wie zehn Minuten. Lange würde sie wohl nicht mehr sprechen, denn die Tänzer von O Tahiti E traten bereits aus den Kulissen, um sich in einem Halbkreis hinter ihr zu versammeln.

    "Wie ist es möglich," fragte Maeva, "dass alle zerstörerischen Handlungen, die wir erleben müssen, von den Verantwortlichen als kreative Taten gefeiert werden? Die Bombardierung anderer Länder, der Bau von Staudämmen, das Versprühen von Insektiziden, die Erschaffung genmanipulierter Organismen - dies alles wird als notwendig, fortschrittlich und kreativ empfunden. Wir begreifen Gesundheit als Leistung der pharmazeutischen Industrie, wir verstehen soziale Sicherheit als etwas, was Polizei und Justiz herstellen. So ist es auf fast allen Gebieten: wir glauben ausschließlich an ordnungspolitische oder technische Lösungen. Warum? Weil unsere Gesellschaft dem Patriarchat gehorcht, dessen zentrale Werte Überlegenheit und Dominanz sind. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, dass wir das weibliche Prinzip wieder zum Tragen bringen. Schauen wir auf die Natur. Die natürlichen Kreisläufe funktionieren von alleine, sie brauchen den Menschen nicht. In Indien gilt die kreative Kraft der Natur als feminin. Die Anerkennung dieser Kraft macht uns dem Leben gegenüber demütig und lässt uns erkennen, dass wir nicht sein Meister sind. Wenn jeder Mensch bereit wäre, das weibliche Prinzip in sich wieder zuzulassen, würden wir erleben, dass Selbstversorgung, Selbstvertrauen und Selbstbestimmung ganz oben auf der politischen Tagesordnung stünden. Wir wollen nicht länger auf Vernichtung bauen. Ich sprach vorhin davon," sagte sie, bevor sich der Beifall explosionsartig ausbreiten konnte, "dass es Spaß bringen müsste, gemeinsam auf unserer verschmutzten Erde aufzuräumen. Also, fangen wir am besten gleich damit an. Nördlich von Hawaii dreht sich ein sechs Millionen Tonnen schwerer Plastikteppich von der Größe Europas im Kreis. Bisher wird er von den subtropischen Winden in eine spiralähnliche Bewegung gezwungen, aber es ist zu befürchten, dass sich die Windrichtungen im Zeichen des Klimawandels sehr bald ändern werden. Also lasst uns fischen gehen. Sammeln wir sie ein, die Strandsandalen, Kunststoffmatten, Giftmüllbehälter, Kleiderbügel, Badeenten, Volleybälle, Styroporplatten und auch allen anderen überflüssigen Dreck, den die Wegwerfgesellschaft uns hinterlassen hat. Diese Aufgabe übersteigt unsere Kräfte natürlich bei weitem. Deshalb wird die URP die Verursacher in die Pflicht nehmen. Was spricht dagegen, dass sich Japan, dass sich China, die USA und die europäischen Länder an dieser Aufräumarbeit beteiligen. Was spricht dagegen, dass Global Oil uns seine Hebetankerflotte zur Verfügung stellt, anstatt mit ihr, wie vor fünf Jahren geschehen, vor Tahiti illegal nach unseren Rohstoffen zu schürfen? Wir haben einen Anspruch auf ihre Unterstützung und wir werden diesen Anspruch vor aller Welt formulieren..."

    Maeva hatte Mühe, sich noch einmal Gehör zu verschaffen. Die Musiker von O Tahiti E nutzten die allgemeine Raserei, um ihre Instrumente aufzubauen. Schließlich beruhigten sich die Leute, deren Gejohle Steve doch gehörig auf die Nerven gegangen war.

    "Danke," sagte Maeva lachend. Sie hatte sich erhoben und bat das Publikum um Verständnis für eine letzte kleine Anmerkung.

    "Jede körperliche Erscheinung, die wir wahrnehmen," sagte sie, "ist lediglich Bestandteil einer sich permanent verändernden Oberflächenstruktur. Alles Materielle, alles was wir sehen, anfassen, hören, riechen und schmecken können, gleicht den Wellen auf dem Ozean. Sie kommen und gehen, der Ozean aber bleibt. Die Tatsache, dass auch wir eines Tages unsere Gestalt verlieren und eintauchen werden in seine Tiefe, bedeutet ja nur, dass wir endlich wieder eins werden mit seiner kraftvollen Energie. Je nachdem, wie wir gelebt haben, tragen wir zu seiner Reinigung oder zu seiner Verunreinigung bei, werden wir von ihm entweder willkommen geheißen oder als kontaminierte Substanz behandelt. Ich frage Sie also: wer muss mehr Angst vor dem Tod haben: diejenigen, die den Regeln der Schöpfung entsprechend gelebt haben, oder diejenigen, die diese Regeln in ihrer kurzfristigen irdischen Existenz aufs Gröbste missachteten? Die URP, das ist mein sehnlichster Wunsch, soll ein mächtiger Verbund von Angstfreien sein. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Mauruuru roa ..."



    Cording reichte der Garderobenfrau sein Taschentuch. Die Frau schämte sich ihrer Tränen nicht. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und sah zu, dass er in den Saal gelangte, jetzt, da doch einige Besucher zu den Erfrischungsständen eilten. Diesmal durfte er passieren, er hatte Glück, denn kaum dass er im Konzertsaal war, wurden die Türen bereits wieder geschlossen. Wie auf Kommando begannen die Musiker zu spielen. Oh, wie er die tahitianische Musik liebte, die sich allein dem Atem des Ozeans verpflichtet fühlte, ob dieser nun heftig ging oder sanft.

    Jemand winkte ihm aus der Mitte der Reihe zu. Es war Steve, der ihm zu verstehen gab, dass neben ihm noch Platz war. Aber er wollte hier stehen bleiben, jedes Gespräches enthoben, in dem er sich doch nur hätte rechtfertigen müssen. Er entdeckte Maeva inmitten der Tänzerin, sie wirkte wie ein Fisch im Schwarm, eingebunden in eine einzige grazile Bewegung. Cording wusste jetzt schon, was er später aufschreiben würde, er konnte die Sätze bereits fühlen, die eigentlich nur noch zu formuliert werden brauchten. Sie sollten davon erzählen, wie es einer jungen Frau gelungen war, den Hass einzuschläfern und der Angst zu sagen, sie möge von ihren furchteinflößenden Gebärden nur die Agonie im Blick bewahren, zu mehr tauge sie nämlich nicht ...

5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wow! Das wird ein geiles Buch. Vielleicht dürfen wir zwischendurch ja mal öfter etwas lesen. Dem Dirk wünsche ich viele gute Energie beim schreiben und genügend positives "Feedback", damit er auch durchhält.

Iris

Reiner hat gesagt…

Hallo Dirk,
vielen Dank!
Mir ging's wie der Garderobenfrau mit dem Taschentuch.:-)
Was mir nun am nächsten Tag durch den Kopf geht, ist die Frage, ob es "realistisch" ist, daß alle im Auditorium von anfang an so begeistert sind - ist es der Zauber des anderen Moduses (ohne Teleprompter ...) ?
Ich kenne dazu die Vorentwicklung in der Geschichte ja nicht, könnte es vielleicht einige Opponenten/Reservierte geben, bei denen erst im Laufe der Rede das Eis bricht und sie in die Begeisterung einstimmen?
Aber vielleicht nähme das der Rede die Dichte.

Ich freu' mich schon
-Reiner-

Lari hat gesagt…

Ich bin schwer beeindruckt von Maevas Rede. Sie ist sehr klug und spirituell. Ohne Firlefanz, ganz klar und schön. Es liest sich so, als hättest du beim Schreiben direkte Verbindung gehabt zu 'wie immer wir es nennen wollen'. Vielen Dank dafür, dass wir schon vorab teilhaben können

Anonym hat gesagt…

Hallo Dirk,

auch von mir Glückwunsch zu diesem Auszug.
Eine Anregung habe ich:
Durch die Dokumentation "Addicted to plastic"
von Ian Connacher habe ich erfahren, dass man sich den Müll in den Ozeanen nicht als grobteilig, wie z.B. Sandalen, sondern eher als eine Wolke von Mikroteilchen vorstellen muss, die Organismen als Nahrung wahr- und aufnehmen.

Liebe Grüße aus München
Andreas

Anonym hat gesagt…

Hallo Dirk - auch wenn es schon etwas her ist, dass diese Rede veröffentlicht wurde:

Die Worte treffen ins Herz. Habe das Tahiti-Projekt gerade durchgelesen, und warte nun sehnsüchtig auf das Nächste.

Danke für Band 1! Großartige Leistung. Bitte mach weiter so...

Es grüßt die Seelenschwester von Kimberley

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